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B.2.1 | „Eine unzumutbare Gewissensverwirrung“.
Die sozialen und emotionalen Folgen von Humanae Vitae: Protestrituale, sakramentale Erfahrungen und Körperpraktiken

Aschmann, Birgit / Potempa, Alina – Berlin
Publikum auf dem Katholikentag 1968 in Essen

Die Enzyklika Humanae Vitae vom 25. Juli 1968, die den Katholiken den Gebrauch künstlicher Empfängnisverhütungsmittel verbot, stellt ein zentrales Ereignis der modernen
Kirchengeschichte dar. Die Entscheidung Papst Pauls VI., die Legitimität der ehelichen Sexualität an die Möglichkeit einer Schwangerschaft zu koppeln, löste bei Klerus und Gläubigen in der Bundesrepublik große Emotionen aus: Einige reagierten euphorisch, die Mehrheit aber war
schwer enttäuscht. Das Projekt untersucht diese Reaktionen auf Humanae Vitae und ihre Folgen mit einem emotionshistorischen und ritualtheoretischen Ansatz vor allem für die 1970er Jahre. Entstanden mit und durch Humanae Vitae innerhalb des westdeutschen Katholizismus „emotionale Gemeinschaften“ (Barbara Rosenwein), die bis heute Gruppen und Positionen prägen? Das Projekt stellt erstens Rituale des Protests in den Mittelpunkt, die sich im Sommer 1968 vor allem in zahlreichen Schreiben an die Bischöfe und auf dem Essener Katholikentag äußerten. Dabei soll nach dem Verhältnis zwischen den „katholischen“ Protesten und den Formen des außerparlamentarischen Protests von 1968 generell gefragt werden. Aus den vielfältigen Reaktionen kann zweitens auf eine Rückwirkung auf die sakramentale Praxis geschlossen werden. So wird untersucht, welche Folgen die Enzyklika für die ohnehin in die Krise geratene Beichtpraxis und die Verknüpfung von Beichte und Eucharistie hatte. Gelangte das „emotionale Regime“ (William Reddy) des Klerus, das die Deutungshoheit über das Intimleben der Gläubigen beanspruchte, hier in eine nicht wieder einzuhegende Krise und wurde dadurch – ganz entgegen der Intention der Enzyklika – die Individualisierung und Pluralisierung gelebten Glaubens noch befördert? Drittens geht es um die Folgen für die Paarbeziehungen und den Ehealltag. Inwiefern veränderte sich jetzt die bundesweit organisierte katholische Eheberatung, deren Ausrichtung vor Humanae vitae von der Empathie für Frauen geprägt war, die unter der Angst vor zahlreichen Schwangerschaften litten? Das Projekt zieht unveröffentlichtes Archivmaterial (Korrespondenz von Bischöfen und Priestern mit Gemeindemitgliedern, Positionsbestimmungen von Klerikern, Pfarrgemeinderäten, Hochschullehrern, Unterlagen von Eheberatungsstellen), katholische Publikationen (auch Pfarr- und Bistumsblätter) sowie Interviews mit Zeitzeugen als Quellen heran.

Das Projekt soll zeigen, inwiefern sich der für die 1970er Jahre der Bundesrepublik allgemein angenommene Strukturbruch auch im Katholizismus spiegelte, bzw. welche eigenen, womöglich abweichenden Dynamiken hier beobachtet werden können und welche Interdependenzen sich mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen ergaben.